METAMORPHOSIS & PHÖNIX
Verwandle deinen Schmerz, deine Wut und deine Ängste!
Orpheus & Eurydike
Wenn der Sterbliche begann Musik zu machen, kamen Vöglein und setzten sich auf die Äste über seinem Kopf um zuzuhören. Wenn er spielte, versammelten sich die Tiere der Felder um ihn herum, neigten die Köpfe und lauschten.
Sein Name war Orpheus.
Orpheus verliebte sich und heiratete Eurydike.
Doch während der Hochzeit gab es ein schlechtes Omen: Die Lampen verströmten schwarzen Rauch. Und so kam es, dass Eurydike kurz nach der Hochzeit von einer Schlange gebissen wurde und starb.
Orpheus hielt die Trauer nicht aus und machte sich auf die Reise mit seiner Musik. Er kam zu einer dunklen Höhle, tauchte ein in die Dunkelheit und kam an das Ufer eines öligen, schwarzen Flusses, des Flusses des Vergessens. Auf der anderen Seite des Flusses konnte er das Land der Toten sehen.
Orpheus starrte über das Wasser und hatte nur den Gedanken an Eurydike im Kopf.
Wie konnte seine schöne Braut an diesem seltsamen, dunklen Ort sein?
Ein Knurren und ein raues Bellen ertönte und der große dreiköpfige Hund Zerberus, sprang zähnefletschend auf Orpheus zu. Orpheus hob seine Leier (ähnlich wie eine Harfte, etwas zum Zupfen) und begann zu spielen, und seine Musik war so schön, dass der monströse Hund stehen blieb, mit dem Schwanz wedelte, seine sechs roten Augen schloss, sich auf den Rücken rollte und mit seinen drei Köpfen mitsang.
Die Schönheit der Musik schwebte über das Wasser und erreichte die Ohren von Charon, dem Fährmann.
Er steuerte sein Boot in Richtung des Klangs. Orpheus hörte nicht auf zu spielen und stieg vom Ufer in das Boot und der alte Fährmann steuerte sein Boot über den Fluss. Als sie das andere Ufer erreichten, sprang Orpheus, der immer noch spielte, aus dem Boot und ging in den Schatten.
Bald war ein Flüstern um ihn herum zu hören, ein Rascheln, ein Schlurfen, wie das Geräusch des Windes, der durch totes Laub weht. Die Toten versammelten sich. Sie folgten ihm. Sie waren verzaubert von seiner Musik. Sie brachte sie zum Weinen über Sorgen, an die sie sich nicht mehr erinnern konnten; sie brachte sie zum Lachen über Freuden, die vergessen waren. Denn die Toten haben jede Erinnerung an ihr Leben verloren. Sie sind eine umher wandernde Schar flüsternder Geister.
Orpheus ging weiter und weiter, umgeben von den Toten, und dann sah er den Palast von Hades, dem Gottes der Unterwelt, aus den Schatten auftauchen.
Er betrat die Halle des Palastes und sah zwei Throne. Auf dem einen saß der König des Schreckens, Hades selbst, seine Augen so tief wie offene Gräber, sein schwarzer Bart breitete sich bis zu seinem Bauch aus. Neben Hades saß seine Frau, die schöne Persephone. Sie war wie ein wunderschöner Mond, der von einem dunklen Himmel strahlte.
Orpheus, der immer noch auf seiner Leier spielte, schritt zu den zwei Thronen. Er stellte sich vor den Gott und die Göttin. Er schaute in ihre Gesichter und begann zu singen: „Wir Sterblichen sind erbärmlich, und die Götter, die keine Sorge kennen, haben das Leid in das Muster unseres Lebens gewebt. Selbst der Sperling auf dem Ast, selbst der Zaunkönig auf der Weide kennt mehr Kummer, als die Götter, die nie gespürt haben, wie sich die kalte Hand des Todes um ihre Herzen schloss. Aber ihr mächtigen Götter, ihr habt die süßen Schmerzen der Liebe gekannt. Großer Hades, stell dir diese Sommermonate vor, wenn Persephone fort ist. Stell dir vor, wie ihr blasses Gesicht zu Staub zerfällt. So ergeht es den sterblichen Menschen. Großer Hades, ich flehe dich an, gib mir meine Eurydike zurück.“
Es herrschte Schweigen. Dann wandte sich Persephone an Hades, ihr Gesicht war voller silberner Tränen. Hades drehte sich zu seiner Frau um und eine ölige schwarze Träne rann ihm die Wange hinunter, bis auf seinen Bart.
Hades sprach: „Holt mir die drei Schicksalsschwestern.“
Die drei alten Schwestern wurden vor ihn gebracht, die erste, die den Lebensfaden spinnt, die zweite die seine Länge misst und die dritte, die ihn durchschneidet.
Hades blickte in das runzlige, ledrige Gesicht der dritten Schwester und sagte: „Finde den durchtrennten Lebensfaden von Eurydike und flicke ihn.”
Hades wandte sich an Orpheus. „Geh jetzt! Verlasse meinen Palast! Verlasse mein Reich, und sie wird dir folgen. Aber sieh nicht hinter dich. Sieh nicht über deine Schulter, bis das Licht der Sonne voll auf dein Gesicht scheint.“
Orpheus verbeugte sich und verließ den Palast. Er machte sich auf den Weg durch das schattige Königreich bis er an das Flussufer kam. Charon, der Fährmann, wartete auf ihn; er kletterte in das Boot.
Als er sich setzte, spürte er, wie es zitterte, als ob jemand hinter ihm eingestiegen wäre. Er hielt seinen Blick auf das ferne Ufer. Als sie das Flussufer erreichten, stieg er aus dem Boot und hörte hinter sich Schritte, die ihm folgten.
Manchmal glaubte er, Eurydikes Atem in seinem Nacken zu spüren. Und immer noch schaute er nach vorne.
Doch als Eurydike Orpheus folgte, blieb sie mit dem Fuß an einem Stein hängen, stolperte und fiel. Orpheus hörte sie stolpern und ohne nachzudenken drehte er sich um, um sie aufzufangen. Er versuchte, ihren Sturz zu bremsen und einen einzigen Moment lang sah er ihr Gesicht, blass unter den silbernen Sternen. Und dann war sie weg.
Das Schicksal hatte zum zweiten Mal den Lebensfaden von Eurydike zerschnitten.
Und dieses Mal würde er nicht mehr zu flicken sein.
Orpheus wusste, dass es keine Rückkehr in das Land der Toten geben würde.
Also machte er sich auf den Weg zurück in die Welt der Lebenden und widmete sich seiner Musik, die schöner war als je zuvor, durchwoben von einem silbernen Faden des Kummers.
Orpheus sah Eurydike nie wieder.
Zumindest nicht in dieser Welt.
Aber manche Leute sagen, als er viele Jahre später starb, und sich zu der treibenden, selbstvergessenen Schar der Toten gesellte, Persephone ihn gesehen hatte.
Sie erinnerte sich an ihn und spürte Mitleid für die Liebe von Orpheus und Eurydike. Sie berührte Orpheus’ Stirn mit der Spitze ihres Fingers. Und in diesem Moment kehrte seine Erinnerung zurück. Und dann berührte Persephone Eurydikes Stirn und auch sie erinnerte sich an alles.
Die beiden Liebenden fanden sich in diesem Schattenreich und fielen sich in die Arme. Und noch heute, so sagen manche, gehen sie zusammen, reden und lachen, Arm in Arm.